[BETREUTES PROGGEN] The Pineapple Thief, Alex Henry Foster & The Long Shadows, 26.10.21, Mainz, Kulturzentrum
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Ungezügelte Emotionalität vs. Perfektionismus
The Pineapple Thief waren in den letzten Jahren meist Garant für hochqualitative Live-Auftritte mit exzellenter Klangqualität. Insbesondere, seitdem Gavin Harrison fester Bestandteil der Band um Mastermind Bruce Soord ist. Grund genug für Freunde des gediegenen Progressive Rock, sich die aktuelle Europatournee der Ananas-Diebe nicht durch die Lappen gehen zu lassen. Dass gut einen Monat vor Beginn der Konzertreise dann Alex Henry Foster & The Long Shadows als Vorgruppe der Engländer bekanntgegeben worden ist, steigerte bei einigen Musikfans die Vorfreude, zumindest bei jenen, die die Kanadier schon einmal hatten live erleben dürfen.
Denn die hatten es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, als Opener, den nach ihnen auftretenden Headliner an die Wand zu spielen. So geschehen zuletzt im letzten Jahr, als Alex Henry Foster und seine Mitmusiker mit …And You Will Know Us by the Trail of Dead auf Tour waren. Dass dies den Quebecern auch bei The Pineapple Thief gelingen könnte, konnte jedoch bezweifelt werden, da die Briten Filigrantechniker sind, während es Trail of Dead immer wieder schaffen, selbst ihre größten Prog-Perlen in oberflächliche Hardcore-Songs zu verwandeln.
Alex Henry Foster & The Long Shadows
Dass Alex Henry Foster und seine fünf Mitmusiker überhaupt an diesem Abend im Mainzer Kulturzentrum mit dabei sein durften, war auch für die Nordamerikaner überraschend gekommen. So waren sie nämlich von Bruce Soord höchstpersönlich dazu eingeladen worden, den Anheizer für The Pineapple Thief spielen zu dürfen. Und so durfte es auch für die Briten am Ende des Abends nicht verwunderlich gewesen sein, dass Alex & Co. an diesem Abend nicht nur einfach zündelten, sondern ein wahres musikalisches Feuerwerk abfackelten.
Musikalisch zwischen Post und Noise Rock angesiedelt, handeln die Texte Fosters hauptsächlich von Schmerz und Trauer. Gefühle, die der Künstler an diesem Abend auf der Bühne nachzuleben schien, denn Alex Henry Foster ging förmlich in der Musik seiner Band auf. Genau wie seine Mitstreiter ließ Foster sich wahrhaftig gehen, sodass die gerade erzeugten Stimmungen den weiteren Takt vorgaben und großen Raum für Improvisationen bereiteten. Dies wurde selbst bei den beiden neuen Stücken ‘Ouverture’ und ‘Slow Pace of the Winds’ deutlich, obwohl zum Vergleich ja gar keine Studioversionen der Lieder vorlagen. Das Publikum stand den Kanadiern größtenteils staunend gegenüber und schien kaum greifen zu können, welche ungefilterten Emotionen gerade von der Bühne auf sie überschwappten.
Vor allem, da die Leidenschaft der sechs Musiker von Stück zu Stück intensiver wurde und in der Darbietung des vom Debüt-Album “Windows In The Sky” stammenden ‘The Hunter (By the Seaside Window)’ kulminierte. Ein Stück, das mit seinen Spoken-Words-Passagen auch heute unter die Haut der Zuhörer kroch und sich dort, mit jeder Sekunde des über 15-minütigen Crescendos unwiederbringlich ausbreitete. Gefühle, die durch die Agilität und Passion v.a. Alex Henry Fosters nur noch verstärkt wurden.
Ein Auftritt, der von der Leidenschaft der Musiker und deren ungezügelten Emotionen lebte. Musikalische Perfektion der etwas anderen Art.
The Pineapple Thief
Der Kontrast zum Headliner hätte größer also kaum sein können, denn wo The Long Shadows gerade durch ihr Ungestüm bestachen, überzeugte das englische Qunitett durch Selbstbeherrschung und seine professionelle Herangehensweise. Bruce Soord (Gitarre & Gesang), Steve Kitch (Keyboards), Jon Sykes (Bass) Gavin Harrison (Schlagzeug) und der neue Tour-Gitarrist Beren Matthews wirkten vom ersten Moment an viel disziplinierter als ihre kanadischen Kollegen. Auch sie setzten allerdings Emotionen frei, gerade weil alles so kontrolliert und gezügelt wirkte. Denn das Ergebnis ihrer Herangehensweise war nicht nur eine fehlerfreie Darbietung, sondern auch ein audiophiles Klangerlebnis, das bei Live-Events so nur selten geboten wird. Klangliche Perfektion, die selbst den leisesten Nebengeräuschen ihren angemessenen Raum in der soundtechnischen Gesamtabmischung einräumte.
Dabei bedienten The Pineapple Thief vor allem Fans der neueren Phase der Band. Denn die gespielten Stücke stammten fast auschließlich aus der Gavin-Harrison-Ära der Engländer, sprich von deren letzten drei Sudioalben: “Your Wilderness” (2016), “Dissolution” (2018) und dem letztjährigen “Versions of the Truth”. Lieder wie ‘In Exile’. ‘Demons’ oder ‘Threatening War’, die auch in ihrer Live-Darbietung weniger von Durchschlagskraft lebten als vielmehr von ihren intelligenten Arrangements, ihrer schwebenden Atmosphäre und vor allem ihren leisen Zwischentönen. Songs, die genauso zum Schwelgen einluden, wie zum Staunen. Denn The Pineapple Thief waren nicht nur akustisch eine Offenbarung, es machte auch unheimlich Spaß, Musikern wie dem sichtlich gutgelaunten Jon Sykes oder der Schlagzeug-Legende Gavin Harrison beim Spielen von Meisterwerken wie ‘White Mist’ auf die Finger zu schauen.
Nichtsdestotrozt wirkten die fünf Musiker im direkten vergleich mit den energiegeladenen Alex Henry Foster & The Long Shadows ein wenig unnahbar. Die reduzierte Kommunikation Bruce Soords mit seinem Publikum hatte hieran genauso ihren Anteil, wie die On-Ear-Kopfhörer des Bassisten, welche diesen ein wenig entrückt wirken ließen. Einzig Neuzugang Beren Matthews setzte mit seinem leicht punkigen Spiel einen erfrischend wirkenden Konrapunkt zu seinen abgeklärten Mitstreitern. Doch schmälerte diese relative Zurückhaltung von Bruce Soord und Konsorten in keiner Weise das Konzerterlebnis des Publikums, denn es war gerade diese Mischung aus spielerischer Professionalität, klanglicher Brillianz und gezügelten Gefühlen, die die Zuschauer in Verzückung setzten. Dem ein oder anderen hätte es vieleicht gefallen, wenn The Pineapple Thief ein paar ältere wie flottere Lieder gespielt hätten oder ein wenig mehr aus sich raus gegangenen wären. Aber auch diese Fans bekamen letztendlich noch was sie wollten. Denn als nach ‘Part Zero’ und ‘The Final Thing on My Mind’ mit ‘Nothing at Best’ vom 2010er Album “Someone Here Is Missing” die letzte Zugabe erklang, ließen auch The Pineapple Thied endlich ihren Zügel los und zeigten, dass sie noch immer ganz gewaltig rocken können.
Es war ein Abend, der als Ganzes betrachtet fast nichts zu wünschen übrig ließ. Mit Alex Henry Foster & The Long Shadows und The Pineapple Thief hatten zwei Gruppen zusammengefunden, die beide auf ihre eigene Weise das Publikum begeistern konnten. Erstere aufgrund ihrer ungezügelten Emotionalität und Spontanität. Und letztere wegen ihrer perfektionistischen Herangehensweise. Eine Abend voller großer Gefühle.
FLOH FISH
3 novembre 2021